Samstag, 8. April 2017

Glücksmomente - Kommissarin oder Karnevalsprinzessin

Ein Interview


Wie ich Autor Andreas Pflüger, bei seinen Recherchen zu seinem Thriller Endgültig, unterstützen konnte.

Aaron ist eine Superwoman. Und das darf sie auch, schließlich ist sie eine Romanheldin. Ist sie deshalb auch eine Superblinde? Andreas Pflüger suchte im Zuge seiner Recherche den Kontakt zu blinden Frauen, unter ihnen Kerstin Müller-Klein. Sie erinnert sich an den Besuch des Autors und spürt den Parallelen zwischen ihr und Aaron nach.

Mit 31 Jahren ist Aaron erblindet. Ich auch. Bei einem missglückten Polizeieinsatz verlor sie ihr Augenlicht, durch einen Schuss, von jetzt auf gleich. Bei mir lagen fünf Tage zwischen jetzt und gleich. Dann sah ich nichts mehr. Kein Licht. Nichts. Die Folge einer Sinusvenenthrombose, ein Gerinnsel hat den Sehnerv abgedrückt. Von tausend Patienten trifft es einen.


Um die blinde Kommissarin Aaron zu erschaffen, suchte Andreas Pflüger Kontakt zu blinden Menschen und landete auf meinem Sofa. Von Berlin bis nach Schmelz-Limbach ist er dafür gereist. Ein kleiner Ort im Saarland. Vielleicht hatte er sich gedacht, dass er den Menschen in seiner Heimat näher kommt. Die Vorsitzende des Blinden- und Sehbehindertenvereins für das Saarland, Christa Maria Rupp, hatte den Kontakt zu mir hergestellt. So kamen wir zusammen. Zwei Saarländer unter sich. Das geht nur auf Platt. Vertrauen stellt sich dabei wie von selbst ein.

Wer blind ist, muss Blindheit erklären. Ständig. Ob man will oder nicht. Den nächsten Angehörigen, Freunden, Kollegen, Wildfremden auf der Straße. Das weiß ich inzwischen seit elf Jahren. Den Drehbuchautor vieler „Tatort"-Folgen zu beraten, ist natürlich etwas anderes. Aber Andreas Pflüger hat mir die Aufgabe leicht gemacht. Er hat gar nicht viel gefragt, sondern war einfach zu Besuch.

Überrascht war er vor allem davon, wie es bei uns aussieht. Geschmackvolle Einrichtung, schöne Dinge, überall Blumen. Schließlich war ich früher Floristin. Die Texturen und Formen von Blumen zu ertasten, finde ich wunderschön. Ihren Duft kann ich leider kaum noch wahrnehmen. Der hohe Hirndruck in Folge der Thrombose hat auch meinen Geruchsinn geschädigt.

Wir kamen vom Hundertsten ins Tausendste. Wie ich den Haushalt auf die Reihe kriege. Kochen, Putzen, Aufräumen. Wie das System Mama in der Küche funktioniert. Alles hat seinen Platz, sinnvoll sortiert, zum Teil markiert. Wehe dem, der sich nicht daran hält. Die sprechende Küchenwaage, das Farberkennungsgerät, das Etikettiergerät: Herr Pflüger wollte ganz genau wissen, welche Hilfsmittel mir durch den Alltag helfen.

Mit dem Langstock kann ich mich bis heute nicht anfreunden. Wie Aaron. Ich möchte nicht als Blinde abgestempelt werden. Die Haltung der anderen macht es einem oft noch schwerer. Man muss nicht nur sich, sondern auch den anderen beweisen, was alles geht. Aaron gelangt mehrfach in Extremsituationen, die ihr das Äußerste abverlangen: der Ritt auf der Lkw-Deichsel, der Zweikampf im Fluss unter Wasser, die Flucht ganz am Ende, sie am Steuer, von ihrem schwer verwundeten Kollegen navigiert. Sie ist eine blinde Superwoman, mit der ich mich nicht messen möchte. Dennoch fühle ich mich ihr in vielen Dingen sehr nah.

Als ich den Thriller von Andreas Pflüger gehört habe, war ich drei Tage nicht ansprechbar. Ich war in einer Welt versunken, in der mir so vieles vertraut war: der Schock nach der Erblindung, der unbedingte Wille, damit fertig zu werden, die Suche nach neuen Wegen – mal mit Hilfe, aber lieber ohne – Ungeduld, Frust und dann doch erste Erfolgserlebnisse. Immer wieder kamen mir die Tränen. Zum Beispiel als Aaron ihrem Vater ihr erstes selbstgebratenes Steak serviert, das viel zu pfeffrig ist, weil sie noch nicht weiß, dass Salz beim Schütteln ein Geräusch macht und Pfeffer nicht.

Für Aaron ist es der Beruf. Für mich war es meine Tochter, die mich zurück ins Leben holte. Sie war neun Jahre alt, als ich erblindete. Ihre Kommunion stand kurz bevor. „Meine Tochter braucht mich", war mein erster Gedanke, als ich begriffen hatte, dass ich nie wieder sehen würde. Das gab mir Energie. Ich wollte es schaffen. Hinzu kommt, dass Kinder mit der Situation viel besser umgehen als Erwachsene. Meine Tochter hat ganz automatisch beschrieben, was sie sah, hat mich tasten lassen, wenn sich etwas nicht beschreiben ließ. So öffnete ich mich für die anderen Sinne.

Heute weiß ich, dass mir die Stimme mehr über mein Gegenüber verrät als das Aussehen. Ich werde es nicht zur Perfektion bringen wie Aaron, die beim Bundeskriminalamt als Vernehmungsspezialistin arbeitet und „zwischen den Worten tastet, um das dahinter Verborgene zu erspüren", wie Andreas Pflüger schreibt. Aber auch ich würde behaupten, dass man ohne Sehvermögen sensibler für die Wahrheit wird. Und man kann sehr gut hören, wem man sein Vertrauen schenken kann. So ist es mir mit „George" gegangen, den ich im Urlaub kennengelernt habe. Seine Stimme war so perfekt, dass ich gleich das Bild von George Clooney im Kopf hatte. Als ich fragte, ob das passt, gab es kein Halten mehr. Halbglatze, dicker Bauch, krumme Beine – nein, mit Clooney hat das nichts zu tun. Aber er ist ein guter Freund geworden.

Ich finde es wichtig, dass sich das Bild blinder Menschen in der Gesellschaft verändert. Deswegen habe ich nicht gezögert, Andreas Pflüger Einblicke in mein Leben zu geben. Mit seinem Thriller erreicht er viele Menschen. Im Kleinen haben wir alle die Möglichkeit, überkommene Bilder zu widerlegen und neue Denkanstöße zu geben. Das wurde mir klar, als mein Mann und ich vor einigen Jahren beim Karneval in Limbach zum Prinzenpaar gekürt wurden. Die Menschen wunderten sich. Und waren dann begeistert.

Aufgezeichnet von Irene Klein

Redaktion „Sichtweisen", vormals „Gegenwart"Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e. V. (DBSV)
Rungestr. 19

10179 Berlin 

Originalbeitrag aus der "Gegenwart", Verbandsmagazin des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV), Ausgabe Juni/Juli 2016


Der Thriller Endgültig von Andreas Pflüger ist im Suhrkamp Verlag erschienen.

Hier geht es zur Leseprobe: 


Hier zum Buchtrailer: 


Ich freue mich sehr, wenn ihr mir einen Kommentar zu diesem Interview dalassen würdet. Habt ihr Endgültig vielleicht sogar gelesen oder gehört?

Eure Kerstin

Anmerkung:

Dieser Beitrag enthält Bilder. Das erste zeigt mich in einem festlichen, langen Kleid und natürlich habe ich ein Lächeln im Gesicht. Das zweite Bild zeigt das Buchcover des Thrillers Endgültig von Autor Andreas Pflüger. Das Cover ist weiß und der Buchtitel "Endgültig" ist neben der normalen, schwarzen Schrift, in Braille geschrieben. Hält man das Buch in Händen, kann man die Braille-Schrift ertasten.

3 Kommentare:

  1. Liebe Kerstin,

    ein wirklich schönes und sehr interessantes Interview.

    Als ich an einer Lesung zu Andreas Pflügers Thriller Endgültig teilgenommen habe, habe ich also schon von dir gehört. Andreas Pflüger erzählte auf der Lesung, wie sehr du ihn bei seinen Recherchen unterstützt hast und wie sehr du ihn auch fasziniert hast. Durch dich ist die Hauptfigur Jenny Aaron sehr authentisch geworden, sodass wir Leser beeindruckt und begeistert von ihr gelesen haben.

    Liebe Grüße

    Anja

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  2. Liebe Kerstin,

    ich bin durch Anja hier her gekommen und sehr froh darüber. Einen durch und durch interessanten Blog hast Du.

    Bei Deinem Interview sind mir gerade die Tränen gekommen, so berührt hast Du mich.
    Ich hoffe, ich finde die richtigen Worte.

    Ich kann mir gut vorstellen, dass Du das immer allen erklären musst. Eine schwierige Sache. Der andere will Anteil nehmen, will verstehen, aber einem selbst nervt es doch. Ich habe eine leise Ahnung. Ich selbst habe Neurodermitis und zum Teil recht schlimm. Ich werde ständig drauf angequatscht. Und es nervt so unglaublich. :) Aber ja, ich versteh eben auch, dass der andere einfach Interesse zeigen möchte. Fast schlimmer finde ich, wenn die Leute mit guten Tipps daher kommen, wie ich geheilt werden kann. Kennst Du das auch, dass Dir Leute sagen, wie Dein Alltag bestimmt besser klappt?

    Wie gut, dass Du Deine Tochter hast und damals schon hattest. Ja, es ist erfrischend, mit welcher Selbstverständlichkeit Kinder mit veränderten Situationen umgehen und nicht so hadern wie wir.

    Das was Du über die Stimme sagst, kann ich total gut nachvollziehen. Ich war zweimal in einem sogenannten Dunkelbar. Also das erstmal war das ein großer Raum, stockdunkel. Man musste vor der Tür alles abgeben, was leuchtet. Uhren oder so. Handys gab es damals noch nicht. ;)
    Dann habe ich mich bei meinen Freunden links und rechts eingehakt und wir sind da rein. Das einzige was wir wussten, dass die Bar rechts war. Es waren etliche Menschen da drinnen. wir haben uns erstmal die nächste Bank ertastet und uns hingesetzt. Meine damalige Freundin hatte immer eine total laute Stimme, die ich oft sehr anstrengend fand. Und in dieser Dunkelheit stellte ich erstaunt fest, dass die Stimmte gar nicht dominant klang, so wie ich immer dachte. Sie klang eigentlich ängstlich. Seit dem Tag konnte ich sie anders wahr nehmen.

    Das zweite mal war ich im Schloß Freundeberg in Wiesbaden in einer Dunkelbar. Dort war auch ein Dunkelweg aufgebaut. Erst ging man durch einen nachgebauten Wald. Die Wände fühlten sich die Steine oder Baumrinde an. Es gab wohl auch echte Bäume. Und das ganze war mit dem Sound von Waldklängen hinterlegt. Vögel, ein Bach. Der Weg ging dann weiter und irgendwann kam man in die Stadt. Da stand dann ein Auto und eine Litfaßsäule. Es gab einen nachgebauten Bürgersteig und auch hier entsprechende Geräusche. Was für mich da richtig schlimm war, dass immer wieder ein vorbei rasendes Auto eingespielt wurde. Ich habe mich jedes mal zu Tode erschrocken und echte Angst gehabt, dass ich gleich überfahren werde.

    Ich hoffe, ich habe Dich jetzt nicht zugetextet.

    Ich wünsche Dir einen schönen Abend.
    Sei ganz lieb gegrüßt
    Lilly

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    1. Hallo Lilly😊Vielen Dank für Deine lieben Worte!Und nein-Du hast mich nicht bequatscht!😉bin sehr begeistert,dass Du Dich getraut hast dies auszuprobieren...Wünsch Dir alles Liebe😘

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